The Great Thaw
Was bedeutet es, die sichtbaren Spuren von Umweltzerstörung darzustellen? Wie lässt sich die Zeitlichkeit der Erderwärmung in einem zeitbasierten Medium kommunizieren? Dies sind die Fragen, die Michaela Grills und Karl Lemieuxs experimenteller Dokumentarfilm aufwirft, der das Auftauen des Permafrostbodens und seine Auswirkungen auf unterschiedliche Ökosysteme untersucht. Der Film schreckt nicht vorm Ernst der Lage zurück, sein Titel verweist nicht nur auf eine potenzielle Zukunft, sondern zugleich auf eine sehr fassbare und katastrophale Gegenwart. Gleitende Kamerabewegungen, die an Grills Into the Great White Open erinnern, geben Oberflächen und Umrisse schneebedeckter Arktis-Landschaft frei. Diese driften Richtung Abstraktion und zurück, Größenverhältnisse und Perspektiven geraten irritierend durcheinander.
Während wir uns in der Schönheit der Bilder einrichten, wird klar, dass wir bereits dem großen Auftauen zusehen: offensichtlich wird dies in exponierten Felswänden, schmelzendem Eis, und dem Geräusch von Wasser, das allmählich durch die Schichten von elektronischer Musik sickert. Falls uns diese Drohnenaufnahmen eingangs ein Gefühl von Erhabenheit geben, so holen uns die wissenschaftlichen Fakten, die auf einer Reihe von Texttafeln präsentiert werden, sehr feierlich zurück auf die Erde und informieren uns über die Konsequenzen unseres Nicht-Handelns.
The Great Thaw ist letztlich ein Experiment in dokumentarischem Filmemachen und ein Ausflug in wissenschaftliche Kommunikation. In Zusammenarbeit mit Forscher:innen wechseln die Filmemacher:innen zwischen dem Übermitteln von Fakten und dem Erschaffen einer Erfahrung von diesen Fakten. Dies erlaubt den Zuseher:innen wiederum, Umweltveränderungen zu spüren und physische Veränderungen zu erleben. Das Zusammenspiel von analogen und digitalen Bildwelten (den jeweils bevorzugten Medien von Lemieux und Grill), kombiniert mit der aufwändig komponierten Tonspur und dem Oszillieren zwischen abstrakt und figurativ, eröffnet einen Raum für körperliches Verstehen und eine fließende Bewegung der Gedanken. Ohne ins Didaktische zu verfallen, bringt uns der Film dazu uns der Realität zu stellen. Wie der finale Zwischentitel mit einem Zitat aus Thomas Hallidays Buch Urwelten: Eine Reise durch die ausgestorbenen Ökosysteme der Erdgeschichte festhält: „Wir wissen, dass der Wandel stattfindet, dass wir dafür verantwortlich sind – und was passieren wird, wenn er so weitergeht. Wir wissen, dass wir ihn stoppen können. Und wir wissen sogar wie. Die entscheidende Frage ist, ob wir es auch probieren werden.“ (Kim Knowles)
The Great Thaw
2024
Österreich, Kanada
45 min
Dokumentarfilm, Experimental
Kein Dialog
englische Textinserts