HABĀ
Mit zittriger, rastloser Stimme erzählt eine junge Frau am Telefon von Panik- und Angstgefühlen. Während wir der aufgewühlten Sahar zuhören, sehen wir Schwarzbild – ein tiefer, undurchdringlicher Raum, aus dem uns das nicht-situierte, körperlose Sprechen der 22-jährigen Protagonistin direkt angeht. In den kurzen Sprechpausen, in denen nur hastiges Atmen zu hören ist, blitzen auf der Bildebene schwarzweisse Bewegtbilder auf: Einsprengsel, dem ägyptischen Spielfilm Doa al Karawan (1959) entnommen. Dieser handelt von jenen Femiziden, die oft als Ehrenmorde beschrieben werden, weil die Wiederherstellung der Familienehre das Tatmotiv darstellt. «In meinem Herzen weiss ich, dass mir etwas zustossen wird» vertraut sich Sahar der Regisseurin Helin Çelik an, bevor die Telefonverbindung abrupt abbricht. «Hallo, Sahar? Bist du noch da? Hallo?». Das Ausbleiben einer Antwort auf ihr Nachfragen nimmt Çelik zum Ausgangspunkt für ihren essayistischen Film HABĀ – eine Suche nach Spuren der jungen Frau, die auf der Flucht vor der Gewalt ihrer Familie verschwunden ist. Im Versuch, die Route des Verschwindens nachzuzeichnen, spricht Çelik mit Menschen, die Sahar gekannt haben. Auf der Tonspur hören wir abwechselnd nur ihre Fragen oder die isolierten Antworten der Gesprächspartnerinnen. Dazwischen, in einem spekulativen Raum des Wahrscheinlichen, entfaltet sich eine kollektive Erzählung, die über Sahars Einzelschicksal hinausreicht. Was ist mit ihr und den vielen anderen verschollenen Frauen geschehen? Wiederholt blickt die Kamera auf weite Steppen, sucht oder tastet Oberflächen von Wasser und Sand ab – beinahe so, als wären die verschwundenen Leben in die Umwelt ein- oder übergegangen. In dieser besonderen Verschränkung von greifbaren und potenziellen Spuren legt HABĀ sowohl strukturelle Gewalt, Mechanismen des Unsicht- und Unhörbarmachens als auch Gesten des Widerstands frei. (Caroline Schöbi)
HABĀ
2024
Österreich, Spanien
23 min