Wankostättn

In hellem Anzug mit elegantem Hut und Krawatte steht Karl Stojka auf der Quellenstraße in Favoriten, einem ehemaligen Arbeiterbezirk in Wien. Wir folgen dem Sog seiner Erinnerungen. Der kurze Dokumentarfilm Wankostättn basiert auf Interviews, die Karin Berger 1997 mit Karl Stojka geführt hat. Als zwölfjähriges Kind wurde er 1943 mit seinen fünf Geschwistern in das KZ Auschwitz-Birkenau deportiert. Er hat überlebt, so wie seine jüngere Schwester Ceija Stojka, die Karin Berger schon früher in zwei berührenden Filmen porträtiert hat. Der aktuelle Film ist das Ergebnis einer langen, freundschaftlichen Verbundenheit der Filmemacherin mit Ceija und Karl Stojka und ein einzigartiger Film über einen verschwundenen Erinnerungsort.

Im Gehen erzählt Karl Stojka von diesem Ort, von seiner Kindheit auf der „Wankostättn“ in Wien, wo sich bis 1941 ein großer Lagerplatz der Roma:nja und Sinti:zze befand.
Auf schwarzweißen Fotos, die von den Nationalsozialisten zur Erfassung gemacht wurden, sind die Lagerwiese, die Pferdewägen, vor allem Kinder und Frauen zu sehen. Durch die erzählten Erinnerungen werden die im Film nur kurz gezeigten Bilder der „Wankostättn“ in ein starkes, eigenes Erinnerungs-Bild von Karl Stojka übersetzt.

Wenn die Kamera alltägliche Straßenszenen, graue Wohnbauten oder parkende Autos mit ins Bild nimmt, während Karl Stojka von Pferdewägen, der Einsperrung und dem gewaltsamem Verschwinden seiner Familie, aber auch von gutem Einvernehmen mit vielen Wiener:innen erzählt, bekommt das (Über)Leben von Geschichte in der Gegenwart des unsichtbaren Antiziganismus ein unheimliches Gesicht.

Im letzten Teil des Films erinnert sich Karl Stojka in der Intimität seines Wohnzimmers an seine Befreiung als 14-Jähriger auf dem Todesmarsch aus dem KZ Flossenbürg. Er zeigt der Filmemacherin und dem imaginierten Publikum ein von ihm gefertigtes künstlerisches Objekt, einen Helm in dem eine Hacke steckt. In dieser visuell und dramaturgisch spannenden Schlußsequenz wird das Verhältnis von Täter:innen und Opfern, von Überleben und Vertrauen, von Handlungsmacht, Beglaubigung und Weitergabe noch einmal souverän aufgespannt.
Die Kamera macht einen Raum frei für die unsichtbare Realität von Geschichte. (Monika Bernold)


Einige während der Dreharbeiten zum Film Ceija Stojka (1999) entstandene Aufnahmen zeigen Karl Stojka, der bewegend vom Leben der Roma*nja im nationalsozialistischen Wien und in der Wankostättn-Siedlung berichtet. In einer Gegenwart, in der die letzten Zeitzeug*innen sterben, stemmt sich Karin Berger gegen das drohende Schweigen und zeigt eine essenzielle Funktion des Kinos auf.
Es ist bedenklich, dass die Jahrzehnte, in denen wir von Zeitzeug*innen über die Verbrechen des Nationalsozialismus lernen konnten, weder zu einer völligen Aufarbeitung führten noch rassistisches Gedankengut aus unserem Alltag verdrängten. Nun nämlich sterben die letzten Zeitzeug*innen, weshalb gerade dem Kino eine essenzielle Rolle zufällt. Karin Berger, die sich in ihrem Schaffen vielfältig in das weitgehend verschwiegene Schicksal der Sinti*zze und Roma*nja während der Zeit des Nationalsozialismus eingearbeitet hat, leistet mit Wankostättn einen weiteren wichtigen Beitrag, der dem drohenden Schweigen mit aller Kraft entgegentritt. Das Filmdokument besteht aus Aufnahmen, die sie 1997 im Rahmen ihres Drehs zu Ceija Stojka (1999) mit Karl Stojka, dem Bruder ihrer damaligen Protagonistin, in Wien drehte. Spazierend rekonstruiert Stojka die Lovara-Siedlung Wankostättn und erzählt mitreißend aus einem Leben, von dem man ohne seine Worte nie erfahren hätte.
(Diagonale)

Orig. Titel
Wankostättn
Jahr
2023
Land
Österreich
Länge
37 min
Regie
Karin Berger
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Deutsch
Untertitel
Englisch
Credits
Regie
Karin Berger
Drehbuch
Karin Berger
Kamera
Jerzy Palacz
Schnitt
Niki Mossböck
Produktion
Navigator Film
Produzent*in
Johannes Rosenberger, Johannes Holzhausen, Constantin Wulff
Originalton
Alf Schwarzlmüller
Verfügbare Formate
DCP 2K flat (Distributionskopie)
Festivals (Auswahl)
2023
Duisburg - Duisburger Filmwoche
Uppsala - Int. Short Film Festival
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films (Bester Kurzdokumentarfilm)
2024
Mexico - FICUNAM Film Festival
Hamburg - Dokumentarfilmwoche