ANQA

Ein kleiner Gasofen springt an und spendet Wärme. In Helin Çeliks ANQA sind Gewaltgeschichte, weibliche Biografien und die Darstellung einer persönlichen „Safe Zone“ eng miteinander verwoben. Die „Safe Zone“ sind Wohnungsräumlichkeiten, in denen drei Frauen aus dem Nahen Osten, die Missbrauch und häusliche Gewalt erfahren mussten und sich dagegen radikal auflehnten, endlich Ruhe gefunden haben.  

Eine von traumatischen Erinnerungen beeinträchtigte Ruhe allerdings: Skizzenhaft beschreiben die Protagonistinnen Eindrücke ihrer Leiderfahrungen und das damit verbundene Gefühl der Ausweglosigkeit, das sie nächtens noch manchmal heimsucht; das sie aber auch Maßnahmen ergreifen ließ, die sie aus sozialen Gemeinschaften ausgeschlossen haben. Sie wurden als „verrückt“, als „Überbleibsel einer Frau“ bezeichnet. Das Leben, ihr Überleben, wird in der Beschränkung auf Fragmente als schwer erkämpftes fassbar, die Geschichten müssen nicht eigens reproduziert werden.  

Zugleich beschreibt Çelik einen Raum, aus dem die „Kälte“, die eine Frau noch „unter der Sonne befiel“, dieses „Untergrund-Gefühl“, entweichen kann. Die Kamera von Raquel Fernández Núñez geht nahe an die Gesichter heran, fängt aber auch körperliche Zuwendungen ein, Details von Händen oder Füßen, die einander berühren. Die Innenräume sind in warmen Farben gehalten, Decken und Vorhänge, die in einer Szene über eine Küchenfront erst aufgezogen werden, konterkarieren die Rekapitulation des Vergangenen. Geglättet werden die Stoffe jedoch nicht, es bleiben Falten, harte Schnittkanten, es gibt surreale Störmomente: ANQA beschreibt keine falsche Geborgenheit, sondern schafft einen poetischen Assoziationsraum, in dem noch die „Care“-Tätigkeiten der Frauen von der Ambivalenz zeugen, die diese dem Leben gegenüber empfinden. (Dominik Kamalzadeh)   

Trailer
Weitere Texte

Ethnocineca 24 - Jury-Statement dt & en (Preis (Auszeichnung))

Ethnocineca 2024 Jurystatement ADA
Jury: Frederike Sperling, Catrin Seefranz, Georg Vogt

deutsch: Alle nominierten Filme beschäftigten sich in anregender und elaborierter Form mit zentralen Fragestellungen unserer Zeit, insbesondere mit dem wichtigen Thema Care oder auch Flucht und Vertreibung aus verschiedenen Perspektiven. Sie boten umfangreiche Vorarbeiten und zum Teil umfassende Langzeitbeobachtungen und Recherchen, die wir mit großem Gewinn gesehen haben. 
Wir haben uns letztendlich mit größter Übereinstimmung dafür entschieden, den Austrian Documentary Award an den Film "Anqa" (2023) von Helin Çelik zu verleihen. "Anqa" ist ein eindringlicher Beitrag zum Genre des Dokumentarfilms als Kunstform, in dem mit allen Mitteln klug und gekonnt eine Idee der Multiperspektivität entwickelt wird. Die Cinematographie etabliert auf vielen Ebenen einen Raum, in dem Trauma eine Repräsentation findet, ohne dabei dem Voyeurismus oder der Ausbeutung zu verfallen. Die Fragmentierung als zentraler Mechanismus des Traumas wird zum bestimmenden Prinzip der filmischen Arbeit. Wir sehen scheinbar banale Routinen des Alltags, die Ordnung und Beruhigung, mithin Nähe und Zärtlichkeit bergen, die aber jederzeit ins Abgründige und Gewaltsame kippen können. Die Potentialität der Katastrophe (die in dem Entflammen des Gasherdes oder dem Rotieren des Ventilators lodert) ist in Verbindung mit den Partikeln der Traumata, von denen wir erfahren, omnipräsent. Von einem Safer Space kann aus unserer Sicht nicht die Rede sein, aber von einem kinematographischen Raum, der bestimmte Formen der Begegnung ermöglicht. Die Agency liegt ganz klar bei den Protagonistinnen, die nicht auf ihre Opferrolle reduziert werden und selbst mitunter komplexe, ambivalente Handlungen zu verantworten haben. Und so rückt dann auch die abschließende Sequenz des Films das diesjährige Thema des Festivals, "Re-rendering Perspectives", entsprechend  ins Licht: "I'm not the remains, I exist", stellt eine der Frauen klar.   

Jury statement ADA, english

All the nominated films dealt with central issues of our time in a stimulating and elaborate way, in particular with the important topic of care or fleeing and displacement from different perspectives. They offered extensive preparatory work and in some cases comprehensive long-term observations and research, which we watched with great pleasure.
In the end, we decided with the greatest consensus to award the film "Anqa" (2023) by Helin Çelik with the Austrian Documentary Award. "Anqa" is a haunting contribution to the genre of documentary film as an art form, in which an idea of multi-perspectivity is cleverly and skilfully developed. On many levels, the cinematography establishes a space in which trauma finds representation without succumbing to voyeurism or exploitation. Fragmentation as the central mechanism of trauma becomes the defining principle of the filmic work. We see seemingly banal routines of everyday life that harbour order and reassurance, and therefore closeness and tenderness, but which can tip over into the abysmal and violent at any time. The potential for catastrophe (which flares up in the flames of the gas cooker or the rotation of the fan) is omnipresent in connection with the particles of trauma that we experience. From our point of view, we cannot speak of a safe space, but of a cinematographic space that enables certain forms of encounter. The agency clearly lies with the protagonists, who are not reduced to their role as victims and who themselves are sometimes responsible for complex, ambivalent actions. And so the film's concluding sequence puts this year's festival theme, "Re-rendering Perspectives", into perspective: "I'm not the remains, I exist", one of the women states clearly.

Oslo Mirage Documentary Film Festival: Best Cinematography ANQA (Preis (Auszeichnung))

Oslo Mirage Documentary Film Festival 2023: Best Cinematography ANQA (Raquel Nuñez)
Mátyás Erdély
jury statement reads as follows:

I just had the privilege to watch four extraordinary films.
Each of them beautiful in their own way.
The way the filmmakers treated the people in front of the camera. The sensibility with which they approached them.

Coming from the world of narrative filmmaking what we are aiming for is to create truthful moments, scenes and characters. We want to create images that are made with the outmost care and empathy. All of these films were heartbreakingly beautiful and achieved what only the best of cinema  can achieve:
It made me care about these people in a profound way. The hardships of the village people of El Eco, the determination of Zoe Lucas of Sable Island, the traumas of the women of the smoke sauna and the suffering of the three women in Jordan.

I found all four movies very IMPORTANT films. Films we will refer to in years to come for their empathy and sensibility.

One film stood out for me with its boldness, in the way it formulated its own lyrical language throwing away everything unnecessary to focus on its characters like a laser beam.
Nothing fancy, nothing pretty.
Images that told the story as powerful as the images in the era of silent films.  
Without hesitation, in full confidence in its approach. Brilliant filmmaking.

I would love to present the 2023 MIRAGE Cinematography Award to the film:

ANQA
Cinematography by Raquel Fernández Núñez

ARTE-Dokumentarfilm Preis Duisburger Filmwoche 2023 / Jury-Begründung (Preis (Auszeichnung))

Duisburger Filmwoche 2023
ARTE DOKUMENTARFILMPREIS

Begründung der Jury ->>

Der Film erzählt sich wie ein Mosaik. Stück für Stück erschließt sich eine Situation, die ganz buchstäblich verkörpert wird. Einrichtung, Farbe, Räume, alltägliche Verrichtungen erscheinen aus einem übermenschlichen großen Ganzen heraus vergrößert zu sein. Visuell balanciert der Film dadurch eine notwendige Abstraktion und Distanz.
Denn die drei Frauen, die allmählich aus den Details hervortreten, haben ein Ausmaß an Gewalt erfahren, über das der Film nicht informieren möchte. Behutsam und kompetent richtet die Filmemacherin Helin Çelik ihre Fragen an ihren Protagonistinnen aus. Es geht um sie.
Intensiv erlebbar ist das Ringen um Worte und innere Bilder. Berührung und Berührtsein. Die übermächtige Erzählung der Traumata werden – ohne sich zu offenbaren – spürbar umgeschrieben. Ein Kraftakt.
Am Ende wird eine der Frauen erkennen und aussprechen: „Ich existiere!“

Jury: Enoka Ayemba, Christiane Büchner, Stefanie Gaus

Orig. Titel
ANQA
Jahr
2023
Länder
Österreich, Spanien
Länge
91 min
Regie
Helin Çelik
Kategorie
Dokumentarfilm
Orig. Sprache
Arabisch
Untertitel
Englisch, Spanisch
Downloads
ANQA_01 (Bild)
ANQA01 © Helin Çelik
ANQA_02 (Bild)
ANQA02 © Helin Çelik
ANQA_03 (Bild)
ANQA03 © Helin Çelik
Credits
Regie
Helin Çelik
Kamera
Raquel Fernández Núñez AEC
Musik
Nadim Husni, Victor Jann Nasri Bahdousheh
Ton
Maitane Carballo Alonso, Lara Zakhour
Schnitt
Sara Fattahi
Sound Design
Nicolás Tsabertidis
Produktion
Kepler Mission Films S.L.
Produzent*in
Helin Çelik, Rebeca Sánchez López
Mit Unterstützung von
Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport / Federal Ministry for Arts, Culture, the Civil Service and Sport, Zukunftsfonds Republik Österreich, Generalitat de Catalunya Departament de Cultura, Stadt Wien, Institut Catalá de les Empreses Culturals
Verfügbare Formate
DCP 2K flat (Distributionskopie)
Bildformat
16:9
Tonformat
5.1 surround
Farbformat
Farbe
Festivals (Auswahl)
2023
Berlin - Intern. Filmfestspiele Berlinale - Forum
Gijon - International Film Festival
Oslo - MIRAGE Film Festival for the Art of the Real (Beste Kamera)
Viennale - Vienna Int. Film Festival
Sibiu - Astra Documentary Film Festival
Skopje – Int’l Cinematographers’ FF Manaki Brothers
Istanbul International Film Festival
Kassel Dokumentarfilm & Videofestival
Duisburg - Duisburger Filmwoche (ARTE Dokumentarfilmpreis)
Porto - Post Porto Doc
2024
Espinho - FEST New Directors | New Films Festival
Madrid - Documenta Int. Doc Film Festival
Wien - ethnocineca. International Documentary Film Festival Vienna (ADA Austrian Documentary Award)
Ann Arbor - Film Festival
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films (Grosser DIAGONALE PREIS Dokumentafilm + Bester Schnitt)
München - UnderDox, Festival für Dokument und Experiment