Nichts Neues
Monatelang muss die Crew des Seenotrettungsschiffes Lifeline im Hafen von Malta ausharren. Ihrem Kapitän wird vor Ort der Prozess gemacht – nach der Rettung hunderter geflüchteter Menschen vor dem Ertrinken muss sich Claus-Peter Reisch vor Gericht verantworten. Der Vorwurf: eine fehlende Registrierung des Schiffes.
Nichts Neues, das Langfilmdebüt von Lennart Hüper, begleitet die Besatzung während der Zeit des Festsitzens, des Wartens auf ein erlösendes und anker-lösendes Urteil. Zehn Monate – „you could have had a baby in that time!“ – in denen das Leben draußen weitergeht. Draußen, an Land und im Meer, entlang der tödlichsten Fluchtroute von Libyen nach Italien.
Nüchterne Aufnahmen des Schiffsalltags sind durchwebt von Berichten über das Sterben Geflüchteter im Meer, die Notrufe des Schiffsfunks erzählen im Stakkato von Booten in distress, von der vereinzelten Rettung Überlebender, von vermissten Bootsinsass*innen und verlorenen Funkverbindungen zu den Menschen in Not. Himmel und Meer, zwischen bedrohlichem Schwarzblau, hoffnungsvollerem Morgenrot und abendlicher Hafenstimmung changierend, zeigen den Lauf der Zeit an. Währenddessen wird an Bord der Lifeline ein Putzplan erstellt, Wäsche gewaschen, Gitarre gespielt, miteinander gelacht – es zeigt sich die Absurdität des Alltäglichen in der Ausnahmesituation.
Die Unaufgeregtheit der Crew, geduldig und sehnsüchtig auf den Moment des Segelsetzens wartend, kontrastiert mit den kafkaesken Auswüchsen der europäischen Migrationspolitik. Der Film begleitet Kapitän Reisch bei seiner Gerichtsodyssee, bei Reden und Vorträgen vor Schulklassen und Preisverleihungsgästen, bei Gesprächen mit Politikern. Schmerzhaft bleibt die Notwendigkeit, für sein Anliegen lobbyieren zu müssen – für eine Menschlichkeit, die eigentlich selbstverständlich sein sollte. (Christina Wintersteiger)
Die Crew des zivilen Seenotrettungsschiffes „Lifeline“ sitzt schon seit mehreren Wochen im Hafen von Malta fest. Nach der Rettung von über 450 Geflüchteten aus Seenot muss sich der Kapitän Claus-Peter Reisch nun vor Gericht verantworten. Das Schiff bleibt für die Dauer des Prozesses beschlagnahmt. Die Hoffnung auf ein schnelles Urteil scheint immer weiter zu schwinden. Doch wie ist es, auf einem Rettungsschiff festzusitzen, während wenige Seemeilen entfernt Menschen auf ihrem Weg nach Europa ertrinken?
Der Dokumentarfilm Nichts Neues gibt einen Einblick in die Absurdität der europäischen Migrationspolitik und begleitet Menschen, die etwas verändern wollten, aber zu spüren bekamen, wie wenig wir uns verändern wollen. (Produktionsnotiz)
Bochum Blicke Film Festival 2022 - EIN-BLICKE PREIS für NICHTS NEUES (Lennart Hüper) (Preis (Auszeichnung))
Jury-Begründung: EIN-BLICKE PREIS für NICHTS NEUES (Lennart Hüper)
Erbarmungslos dreht sich die Waschmaschinentrommel. Ein Mann faltet Wäsche, aus dem Radio klingt die Geschichte Sisyphus’, dessen Arbeit niemals endet. Diese trifft auch auf die auf Malta zwangsvertäute Crew der Lifeline zu, deren Leben in Warteschleife Lennart Hüper in NICHTS NEUES einfängt: Ernüchternder Alltag zwischen aktivistischer Praxis, administrativer Gleichgültigkeit und dem andauernden Sterben im Mittelmeer. Wo Menschen gerettet werden könnten, werden Putzpläne erstellt, das Deck geschrubbt, Gitarre gespielt. Kapitän Claus-Peter Reisch reibt sich indes auf der Suche nach einem Vokabular für das scheinbar Selbstverständliche auf. Resilienz im Bewirtschaften einer bleiernen Ausnahmesituation. Die Crew bleibt einsatzbereit, das Schiff im Hafen. Hüper vermittelt das ermüdende, und dabei wesentliche Klein-Klein politischer Arbeit. Die Montage verwebt die Absurdität des Wartens und die Hoffnung, humanitäre Arbeit wieder aufnehmen zu können, mit der Beständigkeit einer sturen Verhinderungsbürokratie. Die Kamera verfolgt, wie sich sorgenloser Kreuzfahreralltag vor den Blick auf politische Realitäten schiebt. Währenddessen bleibt die Nachrichtenlage unverändert: Menschen ertrinken vor Europa, Seenotrettung wird von Behörden behindert. NICHTS NEUES geht subtil den Strukturen der politischen Verwicklung nach, involviert seine Zuschauer:innen in das Geflecht von erzwungener und gewählter Untätigkeit.
Nichts Neues
2021
Deutschland, Österreich
81 min