Noema
"In der Nacht, wenn ich manchmal ein paar Stunden wach bin, dann sehe ich soviel. Ich mach oft die Augen zu auch am Tag, um zu sehen was ich inwendig sehe." (Tatjana in "Noema")
Die 93 Jahre alte Malerin Tatjana Gamerith verliert langsam ihr Augenlicht. Ihre Linienführung verläuft nun intuitiv und mehr aus der routinierten Hand als über das Sehen, da sie ihren Blick nicht mehr auf einen Punkt konzentrieren kann. Blicke werden zu Berührungspunkten, wenn die Kamera Gesten der Malerin einfängt. Lichtritzen, die Tageszeit filtern, begleiten Gedankengänge und lassen die Brüchigkeit von Realität und Zeit spürbar werden. Noema spielt mit Wirklichkeitsvorstellungen und markiert Sinneseindrücke. Grenzen des Abbildbaren und des Imaginären werden dabei unscharf gezeichnet und verschwimmen.
Noema von Christiana Perschon beginnt mit der Abwandlung einer kinematographischen Urszene, dem Blick durch das Schlüsselloch. Allerdings ist das Schlüsselloch in diesem Fall keines, sondern ein leuchtender farbiger Spalt, der sich über die ansonsten schwarze Fläche des Bildes bewegt. Die Differenz ist wichtig, sie ist der Unterschied, der den Unterschied macht. Denn tatsächlich geht es in Noema weniger darum, zu sehen, was dahinter – hinter dem Schlüsselloch oder hinter der aktuellen Einstellung, welche die folgende gerade noch verdeckt – vielleicht verborgen sein könnte. Es geht weder um die Lösung eines Rätsels noch um die Enthüllung eines Geheimnisses, sondern um das Problem des Sehens und der Wahrnehmung unter kinematographischen Bedingungen. Bekanntlich hat das Kino bereits früh eine Schauanordnung institutionalisiert, die alle anderen Sinne einem einzigen Sinn unterordnete, dem Sehen. Auf diese Weise konnte sich am Ort des Kinos das Missverständnis befestigen, bildliche Darstellungen wären ausschließlich das Resultat und der Ausdruck menschlichen oder technischen Sehvermögens. Noema rückt dieses Missverständnis zurecht, und zwar sowohl auf der Ebene der Darstellung als auch des Dargestellten: Der Film konfrontiert uns erstens mit einer Protagonistin (der 93-jährigen bildenden Künstlerin Tatjana Gamerith), deren fortschreitende Erblindung sie keineswegs am Malen hindert, und er tut dies zweitens auf eine Art und Weise, die das technisch vermittelte und notwendig distanzierte Sehen der Kamera mit den synästhetischen Qualitäten bewusster körperlicher Wahrnehmung verkoppelt. Das Resultat ist eine gut halbstündige Reflexion über die Wahrnehmung, das Sehen und die Möglichkeiten der Darstellung des Gesehenen, in deren Verlauf greifbar wird, dass das gemalten wie bewegten Bildern zugrundeliegende Wahrnehmungssystem nicht nur auf visuellen, sondern ebenso auf haptischen Prinzipien aufbaut. (Vrääth Öhner)
Jury Statement - VIS Vienna Independent Shorts 2014 (Preis (Auszeichnung))
Best Austrian Short Film VIS Vienna Shorts 2014
Jury Statement
Noema
2014
Österreich
29 min