Ghost Copy

Zwischen Schwarzkadern blitzen figurative Bilder auf – von Gesten und Blicken. Darüber eine Soundmontage aus Gesprächsfetzen, Störgeräuschen, Atmen und Lachen. Das Kompositionsprinzip von Ghost Copy gründet auf dem auf 8mm-Film dokumentierten "Wiener Spaziergang" (1965) von Günter Brus. Im Rhythmus dieses Werks montiert Christiana Perschon zwischen 1935 und 1965 von österreichischen Amateurfilmer_innen aufgenommenes analoges Found Footage mit digitalen Tonfragmenten von Smartphone- Uploads aus dem Internet. Die Synthese aus Artefakten der Vergangenheit und der Gegenwart schafft einen Raum, in dem Zeit-Geist und Menschen-Bilder gespensterhaft in Erscheinung treten. (Michelle Koch, Diagonale 2016)

Wiedergänger_innen und Gespenster sind die unbelebten Verdoppelungen der belebten Welt. Auch die Amateurfilmaufnahmen von von 1935 bis 1965, die Christiana Perschon in Ghost Copy zu den Tonfragmenten von Smartphone-Uploads montiert, befinden sich in einem Zwischenstadium. Analog und digital, ephemer und aufgezeichnet, abgespeichert und aufgelöst verweisen sie auf den archivarischen Impuls der Gegenwart und auf das Problem der zukünftigen Aktivierung. (Claudia Slanar)

Weitere Texte

Joachim Schätz, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft (Kritik)

Ein Schwarm Vögel; ein Flugzeug; ein Soldat dreht den Kopf; ein Kind sprintet auf die Kamera zu. Diese vier Einstellungen und die vielen, die in den nächsten zweieinhalb Minuten folgen, dauern je nur Sekundenbruchteile, eine Handvoll Kader – gerade lang genug, damit bewegte Formen als Gestalten, Gesten, Geschichtszeugnisse kenntlich werden. Dazwischen ist es finster.
Die Form von Ghost Copy verdankt sich einer doppelten Arbeit mit dem Archiv: Die Bewegtbilder sind österreichischen Amateurfilmen aus den Jahren 1935 bis 1965 entnommen. Das Stakkato aus Aufnahmen und Schwarzkader, in das sie angeordnet sind, ist dem Schnittmuster des 8mm-Films nachgearbeitet, der 1965 Günter Brus´ Aktion "Wiener Spaziergang" dokumentierte. Das Leben als von gewaltförmigen Grenzregimen durchdrungenes stellte Brus in der Wiener Innenstadt am eigenen weißbemalten, in der Mitte stacheldrahtartig zweigeteilten Körper aus. Christiana Perschon reicht dieser Aktion mit ihrer Found Footage-Montage nun keine auserklärte Vorgeschichte zum autoritären Charakter zwischen Ständestaat- und Wirtschaftswunder-Österreich nach, sondern lässt Spuren infamen, makrohistorisch "unerheblichen" Lebens aufblitzen. Die geben zuwenig zu sehen, um sich als Geschichtserzählung ordnen zu lassen, und zuviel, um sie als abstrakt oder anekdotisch abzutun. Kostüm oder Uniform, Geselligkeit oder Mobszene, Stacheldraht oder Seiltanz? Wahrnehmen heißt prekäre Unterscheidungen treffen, zumal der Schnitt vor allem Bewegungsintensitäten balanciert, statt rhetorisch eindeutige Reime zu setzen. Als Gespenst einer Filmkopie leuchtet Geschichte nicht ein, sondern geht um. Geht auch nicht weg: Smartphone-Aufzeichnungen einer aktuellen Kriegsgeneration auf der Flucht – Fahrtwind-Rauschen, Boden-Knirschen, Atemholen – durchdringen die Tonspur.
Joachim Schätz, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft

Rainer Kienböck, Jugend ohne Film (Kritik)

Ghost Copy ist ein Film, der die Vergänglichkeit des kinematischen Augenblicks betont, mit der Ausstellung des Moments arbeitet und für diese Form einen geeigneten Inhalt findet. Zwischen ausgedehnten Passagen von Schwarzfilm kurze Ausschnitte von österreichischen Amateurfilmen. Die ephemere Form der Präsentation trifft auf eine ephemere Form des Inhalts. Nur schwer lassen sich diese filmischen Erinnerungsschnipsel erkennen, einordnen und deuten, nur schwer lässt sich eine Verbindung zwischen den einzelnen Ausschnitten ziehen. Die Erinnerung bleibt lückenhaft, die Filme widersetzen sich den Bedürfnissen des menschlichen Chronisten. Was bleibt ist ein sinnliches Blitzgewitter gerahmt von Dunkelheit.
Rainer Kienböck, Jugend ohne Film

Artwork of the Month / Elisabeth Falkensteiner, PW-Magazine (Kritik)

Einen Lidschlag kurz tauchen Erinnerungsbilder aus schwarzen Filmsequenzen auf. Schmerzlich für das Auge ist das schnelle Abtauchen der Bilder ins Schwarze. Kaum wahrnehmbar, verschwinden sie im ersten Erkennen des Sichtbaren, sodass etwas Geisterhaftes an ihnen haften bleibt. Scheinbar belanglose Momente von Familienaufnahmen der Nachkriegszeit blitzen immer wieder auf. Ungleich dem Visuellen zieht sich eine Soundspur ohne Unterbrechung über die ephemere Bilderfolge. (Kinder)Stimmen, Wind, ein Lamentieren, Verkehrsgeräusche, intensives Luftholen – der brummende Motor sowie ein Tonsignal einer SMS versetzen uns schlagartig in die Gegenwart. Das schnelle Vorbeiziehen und Verschwinden der Bilder begleitet von den rauschenden Tonaufnahmen – ähnlich einer Traumsequenz – erlauben eine subtile Orientierung, eine kohärente Chronologie bleibt aber verwehrt.
Die Montage des bildlichen und auditiven Archivmaterials, analoge Amateurfilme aus Filmarchiven und digitale Video-Uploads von Facebook, obwohl investigativ, setzt kein geschichtliches Narrativ fest, sondern konfrontiert uns mit Schicksalen, ausgelöst von politischen Herrschaftsverhältnissen damals wie heute. Die fragmentarischen Spuren der intimen Aufnahmen aus der Vergangenheit sind nach dem Schnitt-Rhythmus der Dokumentation von Günter Brus´ Aktion "Wiener Spaziergang" (1965) arrangiert und erhalten ihre Dramatik durch den aus Smartphone-Videos entnommenen Sound, welche auf der Flucht von Syrien nach Europa im Sommer 2015 entstanden sind. In Analogie zum zweigeteilten Körper in Brus´ Aktion – in Ghost Copy abwesend – steht das bedrohliche Unterfangen vom Überwinden politisch gedachten Grenzen.
Elisabeth Falkensteiner, PW-Magazine / Artwork of the Month

Produktionsnotiz

Ghost Copy ist eine archäologische Suche nach Geschichts- und Menschenbildern, die sich im Zuge der Sekundärbearbeitung, in der filmischen Montage, neu (er)finden und flüchtig in Erscheinung treten.
Die ausgewählten Bilder - weitgehend unbekannte und bisher nur eingeschränkt benutzbare Amateurfilme im 8mm, Super-8, 9.5mm und 16mm Filmformat - entstammen dem "Archiv ephemerer Filme" des Österreichischen Filmmuseums, des Wiener Stadt- und Landesarchivs/Filmarchiv der mediawien und dem United States Holocaust Memorial Museum. Sie dienen nicht der Illustration eines Zeitgeschehens oder einer Biografie, sondern formen eine Art Traumsequenz. Die filmische Übersetzung in eine Fiktion, die das vorgefundene Material zu Traumbildern formt und damit den Status von visuellen Dokumenten befragt, folgt in der Montage einer formal-strukturierten Matrix.
Die Traumsequenz bildet sich durch das Zusammenstellen und In-Beziehung-Setzen des Archivmaterials - Familienfilme von Kriegs- und Nachkriegsgenerationen in Wien – mit den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen des Wiener Aktionismus der 1960er Jahre und ihrer Kritik an der Spaltung des Menschen durch die Gesellschaft. Als Schnittmuster dient Günter Brus´ Aktion "Wiener Spaziergang" gefilmt in der Wiener Innenstadt 1965 mit einer 8mm Schmalfilmkamera: Der Körper des Künstlers und seine Kleidung sind weiß bemalt. Mit einem schwarzen stacheldrahtartig gezogenen Strich entlang seines weiß bemalten Körpers markiert er eine Grenze und verweist damit auf seine eigene Gespaltenheit und sein Verhältnis zu einem vorherrschenden Gesellschaftsbild. Der Künstler zeigt mit dieser für die damalige Zeit radikalen, existenziellen Körperkunst seine verzweifelte und ohnmächtige Haltung gegenüber einem starren, von konservativen Normen geprägten, gesellschaftlichen System. Als zentrale Metapher in Brus´ Selbstbemalung und späteren Selbstverletzungsaktionen - Materialaktionen, die u.a. an die Materialschlachten des zweiten Weltkrieges erinnern und als Reaktion gegen Faschismus, Ideologie der Opferrolle, Staat und Kirche gemeint waren - greift Ghost Copy das Element der Grenzziehung auf.
Die Spur zum 8mm Originalwerk Wiener Spaziergang entzieht sich dem Blick, das Werk ist abwesend. Was bleibt, ist eine formale Struktur, die als Schnittmuster in Einzelbildern und Tonfragmenten wiederkehrt. Günter Brus´ auf 8mm-Film dokumentierte Aktion Wiener Spaziergang mit einer Länge von einer Minute und fünfzig Sekunden dient als Schnittvorlage. Die Dauer der Kameraeinstellungen und die Schnittfolge ergeben eine Film-Syntax, die GHOST COPY nahezu unsichtbar zu Grunde liegt. Ausgehend von diesem Kompositionsprinzip werden Amateurfilme aus den Jahren 1935-1965 und Tonspuren von Handyaufnahmen, gefunden in sozialen Netzwerken, im Rhythmus des Wiener Spaziergangs montiert. Die Familienfilme von österreichischen Kriegs-und Nachkriegsgenerationen - Symbol einer sich selbst dokumentierenden und kommentierenden Gesellschaft - blitzen als Einzelbilder eingefroren nur mehr schemenhaft auf, während die Tonspur weiter läuft um hör- und sichtbar zu bleiben als eine Kartographie aktueller Grenzziehungen. Die im Schnittmuster des Wiener Spaziergangs montierten Sounds – Dokumente und Kommentare von Ausgrenzungsverhältnissen einer heutigen Kriegsgeneration – setzen die Kritik des Wiener Aktionismus an der Verfasstheit der Gesellschaft in den Kontext der gesellschaftspolitischen Gegenwart. In der Konfrontation des Gewesenen mit dem Gegenwärtigen entsteht eine traumartige Sequenz, die ein Zeitkolorit transportiert: ein Blick in nicht erklärte Räume.
Produktionsnotiz
Orig. Titel
Ghost Copy
Jahr
2016
Land
Österreich
Länge
2 min
Kategorie
Avantgarde/Kunst
Orig. Sprache
Kein Dialog
Downloads
Ghost Copy (Bild)
Ghost Copy (Bild)
Credits
Regie
Christiana Perschon
Konzept & Realisation
Christiana Perschon
Mit Unterstützung von
Wiener Stadt- und Landesarchiv/Filmarchiv der mediawien, United States Holocaust Memorial Museum, Österreichisches Filmmuseum, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Gesellschaft, Wien Kultur MA 7, BKA - innovative film
Verfügbare Formate
DCP 2K flat (Distributionskopie)
Bildformat
1:1,37
Tonformat
Mono
Bildfrequenz
24 fps
Farbformat
Farbe, s/w
Digital File (prores, h264)
Festivals (Auswahl)
2016
Graz - Diagonale, Festival des österreichischen Films
Wien - VIS Vienna Independent Shorts
Edinburgh - International Film Festival
2017
Bratislava - Febiofest