Those Who Go Those Who Stay
Regen auf der Fensterscheibe, ein Feuerwehrauto, ein Kater, der unzählige Nachkommen gezeugt hat: Es ist das absichtlich absichtslose Schauen, das den Zufall zulässt, ein Erzählen und Erinnern auf Fährten, die Ruth Beckermann kreuz und quer durch Europa und rund ums Mittelmeer verfolgt.
Nigerianische Asylwerber in Sizilien, ein arabischer Musiker in Galiläa, bierselige Nationalisten in Wien, die kapitolinische Wölfin und drei verschleierte junge Frauen, die minutenlang versuchen, eine stark befahrene Straße in Alexandria zu überqueren. Fäden, Tücher und Textilien tauchen immer wieder auf wie Lesezeichen in einem Gewebe aus Reisebewegungen und Fluchtbewegungen.
THOSE WHO GO THOSE WHO STAY erzählt vom Unterwegssein in der Welt und im eigenen Lebenslauf. (prod. note)
Those Who Go Those Who Stay, Der Standard (Artikel)
Für dieses Unterfangen schöpft die Filmemacherin auch aus dem eigenen Archiv und greift zu Aufnahmen, die am Rande von früheren Werken oder auch autonom davon entstanden sind. Als Einzelstück sind sie oft in einem anregenden Sinne erratisch. Einmal fahren die Filmemacherin und der Kameramann Peter Roehsler zum Beispiel im Auto durch die Umgebung von Jerusalem und unterhalten sich darüber, was Satan mit der Geschichtsträchtigkeit dieses Ortes anfangen würde - begänne er seine Ausführungen im Jahr 1967 oder doch schon 1948?
In Wirklichkeit ist weniger der Anfang entscheidend als das Ausbleiben eines Endes. Den Verwerfungen der Geschichte kommt man in Those Who Go Those Who Stay in kleinen biografischen Auszügen auf die Spur. Beispielsweise in einer kürzeren Passage mit Mathias Zwilling, dem jüdischen Lehrer aus Czernowitz, den man auch aus einem Film von Volker Koepp kennt, der erst nach dieser Aufnahme entstanden ist.
Beckermann spinnt lose Fäden - das Motto des Films nimmt auf Ariadnes Geschenk an Theseus Bezug -, welche sie bis zu gegenwärtigen Verhältnissen weiterzieht, etwa zu den jungen fußballbegeisterten Nigerianern, denen sie in Italien begegnet.
Sucht man nach einem strukturellen Motiv, so findet man es zuallererst in dem des Reisens. Beckermann, die, oft allein unterwegs (und insofern als Subjekt im Film auch präsent), neugierig auf eine unvertraute Umgebung blickt. Mit überraschenden Exkursen muss man rechnen - wie auf einer Messe, wo es um eine kugelförmige Kamera geht, mit der man Räume ausspioniert ("Kann man die aus Flugzeugen werfen?"). Zufallsbegegnungen gehören zum Prinzip, eine der komischsten ist jene mit dem Architekten Rudy Ricciotti, der sich vor der Kamera ins Zeug wirft und von Beckermann hübsch ausgebremst wird.
Dass diese Migrations- und Reiseverflechtungen den kulturellen Reichtum einzelner Länder fraglos vergrößert haben, dafür findet Beckermann schöne Belege: Ihre Aufnahmen wecken Lust auf unbekannte Orte und ungewöhnliche Begegnungen. Umso abstoßender wirkt die Mir-san-mir-Seligkeit einer FPÖ-Veranstaltung: ein (fast zu) starkes Gegenbild in diesem Film, der die Grenzen offenlässt. (Dominik Kamalzadeh, Der Standard)
Dossier Beckermann: Rote Fäden (Those who go those who stay), von Rainer Kienböck, Jugend ohne Film, 02.10.2017 (Artikel)
Mit Those who go those who stay zieht Ruth Beckermann nach über dreißig Jahren des Filmemachens in vielerlei Hinsicht Zwischenbilanz. Ein solches Resümee, so könnte man meinen, fasst lose Enden zusammen, ergänzt bisher Nicht-Erzähltes oder Nicht-Gezeigtes, gibt Auskunft über Motivationen für das Filmemachen, schließt ein Kapitel, einen Lebensabschnitt ab. Those who go those who stay ist da anders: das Unabgeschlossene Beckermanns früherer Filme findet hier keinen Abschluss, sondern eine Fortsetzung, kein Gedanken daran verschwendet die mannigfaltigen Themen und Motive ihrer vorherigen Arbeiten in einem letzten Kraftakt zu einem Gesamtkunstwerk abzurunden. Nein, diese Zwischenbilanz ist widerständig. Sie lässt trotzdem deutlicher werden, was Beckermann in ihrem Filmschaffen antreibt. Im Kern geht es nämlich darum, einen Film nicht als endgültiges, unumstößliches Urteil zu verstehen, sondern um eine Auseinandersetzung mit Bildern und Tönen der Welt. Those who go those who stay ist folgerichtig keine Zusammenfassung einer spezifischen Position, sondern ein Angebot noch einmal Bilder und Töne der Welt zu sichten und zu hören, die bisher eine wichtige Rolle in Beckermanns Werk gespielt haben. Ein roter Faden ergibt sich nicht aus der Zusammenführung verschiedener motivischer Stränge, sondern aus der Verdichtung parallellaufender roter Fäden, die sich mal deutlicher, mal weniger deutlich durch ihr Werk zogen.
Assoziative Sprünge durch Raum und Zeit
Die Schwerpunktsetzung lagert Beckermann dabei auf das Publikum aus und geht dabei noch radikaler vor als sie das in ihren früheren Filmen getan hat. Kaum etwas verbindet die kurzen, oft jäh abbrechenden Episoden, die Beckermann zu diesem Film zusammengesetzt hat, außer einem Willen zur Assoziation und vor allem zur Neugier. Welche Orte sind das, die sie bereist: ist das Wien? Paris? Israel? Czernowitz? Italien? Welche Menschen sind das, mit denen Beckermann spricht: ist das ihre Mutter? Freunde? Feinde? Flüchtlinge? Was „erzählt“ ein Film, der so wild durch Raum und Zeit springt: ein Krankenhausbesuch bei der Mutter; dann ein Gespräch mit Matthias Zwilling, einem der letzten Juden in Czernowitz (wo Beckermanns Vater geboren ist); dann wieder ein Besuch einer FPÖ-Veranstaltung am Wiener Stephansplatz; zwischendurch Aufnahmen aus Israel; gegen Ende afrikanische Flüchtlinge in Süditalien – einige Jahre bevor neue Kriege und neues Leid Europa einen Flüchtlingsstrom bescherte, der verheerende politische Kurzschlussreaktionen auslöste.
Mögliche Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Vignetten lassen sich mühelos herstellen. Die Volkstümelei der FPÖ trifft auf die weit entfernte Not abgekämpfter Flüchtlinge, deren Fluchtroute sich zu weiten Teilen mit jener der Mutter deckt, als sie 1938 Wien verlassen musste. Sie floh freilich in die andere Richtung: Nach Israel, dem „Land der einzigen Möglichkeit“, zu dem Beckermann – und viele andere, die dieses Land nicht primär als theologische Konstante verstehen – ein schwieriges Verhältnis hat. Verbindungen über Verbindungen, Querverbindungen über Querverbindungen. Es hilft natürlich, wenn man über ein gewisses Vorwissen besitzt, wenn man Those who go those who stay sieht. Dann lässt sich Beckermanns Verhältnis zu den Menschen und zu den Orten im Film besser ausloten und verstehen. Tatsächlich ist ein solches Vorwissen aber nicht zwingend notwendig. Es war der erste Film von Beckermann, den ich überhaupt gesehen habe und er funktionierte auch ohne viel Verständnis für die persönliche Beziehung der Filmemacherin zu den Sujets ihres Films, denn die Fragen, die der Film verhandelt sind universal, die Gespräche und Gesprächsfragmente geben genug Information, um sich selbst einen Reim zu machen.
Teppich der Erfahrungen
Darin liegt eine Qualität von Beckermanns Filmschaffen: im freien Changieren zwischen Individualität und Universalität. So wie es Franz West in Wien retour gelingt aus seinem eigenen Schicksal auf das Schicksal der österreichischen (und europäischen) Juden zu abstrahieren, so gelingt es Beckermann in ihren Filmen aus einer biographischen Erzählung, über die Existenz und Identität eines ganzen Volks zu reflektieren. Those who go those who stay macht evident, dass eine solche Reflektion nicht über einen philosophischen Kommentar stattfinden muss, der erklärt, wie all diese Bilder und Töne zusammenhängen; und auch nicht über kathartische Momente oder andere Versuche Emotionen zu konstruieren. Die Zusammenhänge stellen sich dann her, wenn die Bilder und Töne aufeinandertreffen – und auf den Erfahrungshorizont des Publikums. Beckermann tritt mit Kamera und Tonaufnahmegerät den Menschen und der Welt gegenüber und breitet einen Teppich aus Fragmenten aus. Ein wirrer, löchriger Teppich ist das, ein Teppich, an den man herantreten muss, an dessen Vervollständigung man selbst arbeiten muss.
Wo soll man bloß aufhören?
(Rainer Kienböck, Jugend ohne Film, 02.10.2017)
Those Who Go Those Who Stay
2013
75 min
Dokumentarfilm
Deutsch, Mandinka, Französisch
Englisch