Yo no veo crisis
Ein Reisefilm. Die Protagonistin – vor fünf Jahren verzogen – kehrt in Begleitung für vier Monate nach Spanien zurück. Mit umfassendem Blick beobachtet sie die Veränderungen, die das ökonomisch aus den Fugen geratene Land seit dem Weggang erfahren hat. Die visuellen Aufzeichnungen zeigen klassische Urlaubsbilder – ein Sonnenuntergang, die an Felsen schlagende Gischt, Wellenreiter bei der Arbeit. Vertraute Klischees, die allerdings nicht unbeschwert ins Gemüt einsickern wollen. Zu düster sind die vorbeiziehenden und statischen Landschaften, in denen unfertige Hotelanlagen wie rezente Ruinen stehen. Die Bilder werden unterlegt von Voice-over Kommentaren der Erzählerin. Ihre Überlegungen schaffen Realitäten, die der Urlaubsseligkeit das Meerwasser abgraben. Historische Fakten und in Zahlen angegebene geographische Entfernungen treffen auf Auskünfte zu globalen Produktionsverhältnissen, Lohnbeträgen und Ticketpreisen. Aussagen von Freunden und flüchtigen Bekanntschaften werden wiedergegeben, sie berichten von unvorhergesehenen Anstellungen beim Militär, Selbstoptimierungsanleitungen im Fernsehen, von Wissenschaftler_innen, die an Gameshows teilnehmen, um Gebühren für Kongresse und Tagungen zu erspielen. Die Bilder von der ausladenden Fähre, mit der die Protagonistin reist, werden verknüpft mit einem Kommentar über die verheerenden Überfahrten, die afrikanische Flüchtlinge seit Jahrzehnten in den Tod treiben. Die Sichtbarmachung politischer Schieflagen verunmöglicht eine verklärte Rezeption ehemaliger Urlaubsparadiese. Ein einziges Mal kippt das Anti-Idyll. Am Ende der Reise blickt die Protagonistin von einer Terrasse aus über die Dächer von Madrid. Hier, weit oben und fernab von den verlassenen Stränden und gespenstischen Häfen, gibt sie sinngemäß die Aussage einer Mitreisenden wieder, die zu Beginn des Films getätigt wurde – Yo no veo crisis. Zum Abspann spielt eine Blasmusikkapelle „Griechischer Wein“. Er schmeckt bitter.
(Melanie Letschnig)
Ein Urlaubsfilm im weitesten Sinn: über Spanien, das Land
mit kolportierten 90 Prozent Staatsverschuldung und eklatanter Jugendarbeitslosigkeit. Inspiriert von Gesprächen mit der betroffenen generación perdida (der „verlorenen Generation“), formulieren die Reisenden eine Geschichte der Ungleichgewichte, die sich sowohl über den unsentimental vorgetragenen Offtext als auch über alltägliche Beobachtungen im Bild vermittelt. Es ist der Versuch einer sinnlichen, ebenso geist wie witzreichen Annäherung an den abstrakten Begriff „Krise“, beispielsweise durch das Motiv eines ehemaligen Vergnügungsparks: Wie eine traurige Metapher für Abwanderung und Perspektivlosigkeit steht das „Abandoned House“ mittlerweile tatsächlich verlassen da – die artifizielle Fassade hat sich der Realität gefügt.
(Katalogtext Diagonale 2014)
Yo no veo crisis
2014
Österreich, Spanien
15 min 30 sek