Spur
Gesellschaften wie die abendländische, die im Begriff sind, ihr Gedächtnis zu verlieren, unterhalten, so der französische Historiker Pierre Nora, ein gespaltenes Verhältnis zur Vergangenheit. Sie leben im Bewusstsein des absoluten Bruchs, das die Vergangenheit in unüberwindliche Ferne rückt, und sind zugleich vom Wunsch nach schrankenloser Nähe beseelt, der die Vergangenheit so sinnlich wie möglich wiederaufleben lassen will. Archivierungswut ist die Folge: Noch den unscheinbarsten Gegenstand oder das unwichtigste Zeugnis verehren diese Gesellschaften als heilige Spur einer Zeit, mit der sie nichts mehr verbindet.
Im Verhältnis zur Gesellschaft, in der er lebt, ist Helmut Weber, der Protagonist von Krisztina Kerekes´ Dokumentarfilmdebüt Spur, Erinnerungsmensch. Er ist nicht nur in der Lage, alles aufzugeben und wieder von vorne anzufangen, sondern für ihn sind Spuren in erster Linie Erinnerungen: an Gerüche der Kindheit wie den Sonntagsbraten der Großmutter oder den Weihrauch in der Kirche. Ganz und gar immateriell, künden sie vom Weiterleben des Vergangenen im Gegenwärtigen und tragen für Weber so zur Orientierung bei.
Erinnerungsmenschen, das macht Kerekes´ Film deutlich, leben nicht in der Vergangenheit, sie beziehen aus dieser ihre Kraft. An einer Stelle sagt Helmut Weber, viele seiner Kunden würden die Spannung nicht bemerken, die zwischen der Besinnung aufs Vergangene und der Wahrnehmung der modernen Welt besteht. In der Vermittlung dieser Spannung liegt der Einsatz des Films: Davon zeugt die Art und Weise, wie Kerekes ihren Protagonisten in Szene, seine Erzählungen zu ihren eigenen Beobachtungen, ihre eigenen Beobachtungen schließlich zu alten Schmalfilmaufnahmen ins Verhältnis setzt, die wiederum von Helmut Weber selbst stammen. Im Prisma dieser vielfältig miteinander verflochtenen Spuren entsteht ein Bild historischen Bewusstseins.
(Vrääth Öhner)
Helmut Weber genießt ein entschleunigtes Leben zwischen Bauernhof und Bio-Laden, in dem nebst Fenchel auch antike Möbel lagern. Die Leute besuchen ihn gerne in seinem „Nest“, um zu tratschen oder sich mit Gemüse aus Webers Garten zu versorgen. Es sind die Gerüche aus der Kindheit, die Weber dort immer noch riecht – Spuren, wie er sie nennt. Sie helfen ihm immer wieder zurück zu finden: zu sich selbst und in seine Lebenswelten.
(Diagonale Katalog, 2012)
Spur
2012
Österreich
40 min