Jour Sombre
Wenn Filmemacher existierende Filme als Ausgang ihrer Arbeit nehmen und diese dann etwa physischen und chemischen Prozessen aussetzen, dann produziert der Widerstand der narrativen Reste des ursprünglichen Materials gegen die Verformung und Abstrahierung der Bearbeitung einen neuen Subtext.
So auch in Johannes Hammels dreiteiligem Jour Sombre. Ausgangsmaterial sind private Filmaufnahmen aus den 50er und 60er Jahren: Ausflüge in die Berge, Wanderungen am Gletscher, Almhütten und Bergseen.
Wir sehen Menschen in Gruppen und verstreut in alpinem Gelände, im Hintergrund das gleißende Weiß eines von einer hellen Sonne beschienen Gletschers. Feldstecher mit dem Blick nach oben gerichtet. Zum Himmel, zur Sonne hin?
Dann plötzlich eine Blase, die das Bild einnimmt, die Landschaft quasi verschlingt, ein grelles Blenden, als würde sich ein vom Eis reflektierter Lichtstrahl direkt in die Kameralinse oder in die Retina einbrennen. Weitere Blasen folgen, die ganze Szenerie kocht auf. Heinz Ditschs Tonspur leistet dem beunruhigenden Szenario Vorschub.
Im folgenden Teil wird dann eine Badende von Scharten und großflächigen Schrammen bedrängt, das ursprünglich idyllische Bild selbst wird rissig und durchfurcht wie ausgetrocknete Erdschollen, die Tonebene liefert dazu die entsprechenden knisternden und scharrenden Sounds.
Der Film ist zur Gänze in Schwarz-Weiß gehalten. Das gilt auch für die zunehmenden chemischen Manipulationen, mit denen Hammel sein Material konfrontiert. Dabei verzichtet er bewusst auf das Farbspektakel sich auflösender Emulsionen und lenkt die Konzentration auf die Formenvielfalt des Zersetzungsprozesses. Durch die Auswahl des Bildmaterials und das Motiv des „Erhitzens“ der Bildoberfläche drängen sich unmittelbare aktuelle Realitätsbezüge auf, das „Schmelzen“ wird zur Allegorie für globale klimatische Veränderungen.
Denn wenn dann im dritten Teil das Bild der idyllischen Almhütte zunehmend zerfließt und kleine amöbenartige Partikel in die entstandenen Ritzen und Spalten drängen, ist die Assoziation zur Evolution neuer Mikroorganismen in ökologischen Umbruchszeiten nicht mehr von der Hand zu weisen.
(Gerald Weber)
Gefundenes Amateurfilmmaterial aus den 50er und 60er-Jahren: Ein Wanderausflug in die Berge, eine Frau beim Baden in einem Bergsee, Aufnahmen einer Berghütte. Jour Sombre zerstört diese Idylle und wandelt das Material in ein Weltuntergangs-Szenario: In drei Teilen wird das Ausgangsmaterial zersetzt, zerlegt, biochemisch bearbeitet und zeigt stufenweise eine voranschreitende Katastrophe, die auf die unbedarften Protagonisten einstürzt. Wie schon in meiner Trilogie Die Badenden, Die Liebenden, Abendmahl (2003-2005) beschäftige ich mich in Jour Sombre mit der Vergänglichkeit von Erinnerungen, von Filmmaterial und vom Leben an sich. In Jour Sombre habe ich damit experimentiert, den Prozess, bei dem sich das Filmmaterial langsam auflöst, unmittelbar sichtbar zu machen.
(Johannes Hammel)
Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche: Hammel, der voriges Jahr bei der Viennale mit Folge mir seine erste lange Regiearbeit vorstellte, löst private Filmaufnahmen in alpinem Gelände aus den fünfziger und sechziger Jahren wie in einem Reagenzglas auf und lässt das Material von allen Seiten auskochen. Die Reste sehen aus wie von Mikroben zerfressen. Das Ergebnis ist ein kompakter Umwelt-Thriller, gegen den Aufklärungsfilme im Stil von An Inconvenient Truth wie Kindergarten-Ökologie anmuten.
(Diagonale Katalog, 2011)
Jour Sombre
2011
Österreich
8 min