Parallax
Die Umkehrung etablierter Perspektiven ist eine Spezialdisziplin der norwegischen Künstlerin Inger Lise Hansen. In Parallax kippt sie die Kamera, wie schon 2006 in ihrem Meeresuferfilm Proximity, um 180 Grad und schickt sie auf die Reise durch eine geisterhafte Landschaft, in der Himmel und Erde vertauscht erscheinen. Als Artist-in-residence hat Hansen Parallax, kommissioniert vom Linzer OK Centrum für Gegenwartskunst, im Februar 2009 gedreht: eine Serie von Schienenfahrten über das weite, menschenleere Flachdach eines Linzer Kaufhauses, an der offenen Industriearchitektur vorbei, die da zu finden ist, an rätselhaften Schächten und Durchgängen, an metallischem Gestänge und weit verzweigten Rohrsystemen vorbei. Die Bewegung selbst ist hier so sehr Illusion wie die Aufhebung der Schwerkraft: Alle acht Fahrten, aus denen der viereinhalbminütige Bildteil dieser Arbeit besteht, sind im Einzelbildverfahren aufgenommen, in der Stop-Motion-Technik des Animationsfilms.
In Parallax wird die Souveränität der Maschine über den Menschenblick gefeiert, wie einst, komplizierter, auch in Michael Snows La région centrale (1971). Hansen produziert, indem sie den mechanischen Gleitflug ihrer Super-16mm-Kamera über vereistes Gras und durch leichtes Schneetreiben ästhetisiert, eine Art automatisches Kino, in dem die vertrauten Zeitabläufe nicht mehr gelten: Die Wolken ziehen im unteren Bildfeld viel zu schnell vorbei, ein paar Gräser zittern im Zeitraffer, und schwaches Sonnenlicht flackert, wie eine elektrische Fehlschaltung, kurz übers Gelände. Sogar der aufwärts fallende Schnee scheint am Ende, wenn die Kamera zum Stillstand kommt, einer mysteriösen Manipulation zu unterliegen. Parallax markiert eine denaturierte Welt, in der selbst die komplexe synthetische Geräuschtonspur ihr fernes Stimmengewirr bald hinter sich lässt, um in Soundscapes vorzudringen, auf die kein Mensch mehr Zugriff hat.
(Stefan Grissemann)
Parallax
2009
Österreich, Norwegen
5 min